

Gabriele Müller (Ärztin für Schmerzmedizin, Frankfurt/M.) und Ursula Gehri (Diplom-Psychologin, Trier), bilden mit Hans Burkhard (Unternehmensberater, Wien) das Koordinationsteam der Kontaktstelle. Wir sprachen mit ihnen über Arbeit, Anliegen, Ziele und eine „Bilanz“ nach vier Jahren.
Wer kann sich an die Kontaktstelle wenden?
Gabriele Müller: Die ‚Kontaktstelle für geistlichen Missbrauch’ ist ein offenes Angebot der Fokolar-Bewegung für alle, die diesbezüglich Anliegen, Probleme und Beschwerden vorbringen wollen. Dabei ist es charakteristisch für geistlichen oder Macht-Missbrauch, dass er für betroffene Personen zunächst oft schwer fassbar ist. Es geht um Grenzüberschreitungen, Beeinflussung in Beziehungsgefügen; und gerade spirituelle Zusammenhänge sind da besonders gefährdet. Manchmal äußert sich das in einem diffusen, unguten Gefühl. Manchmal erleben Betroffene nach Jahren, dass bestimmte Situationen immer wieder einen wunden Punkt berühren und starke Reaktionen auslösen. Im Extremfall geht das Vertrauen in sich selbst, in andere Menschen oder in Gott verloren. Die Person zieht sich mehr und mehr zurück, reduziert Kontakte. Wir möchten einen Raum anbieten, wo Menschen, die solche Erfahrungen gemacht haben – oder unsicher sind, wie sie Erlebtes einordnen sollen – Unterstützung finden. Jede und jeder ist willkomen, denn jede Irritation verdient Beachtung.
Ursula Gehri: Unser oberstes Gebot ist Vertraulichkeit. Wer sich an uns wendet, kann sicher sein, dass davon nichts weitergegeben wird; dass er oder sie dort einer geschulten und neutralen Ansprechpartnerin, einem Ansprechpartner begegnet, wo man offen reden und Dinge ansprechen und sich von der Seele reden kann. Da hört jemand zu, der geschult ist und neutral. Alles, was dann weiter passiert oder nicht passiert, erfolgt immer in ganz enger Absprache mit der Person, die das Gespräch sucht.
Könnte man sagen, es geht um Unterstützung in einem Klärungsprozess?
Gabriele Müller: ja, genau. Wir sind eine Zuhörstelle. Wenn jemand gut zuhört, entsteht ein Resonanzraum, der häufig etwas in Gang bringt. Dabei kann sich dann vielleicht auch Diffuses klären.
Ursula Gehri: Die Kontaktpersonen unterstützen das durch gute und lösungsorientierte, interessierte Fragen. Mitunter klärt sich etwas, mitunter setzt sich etwas, mitunter wird auch etwas anders bewertet aus heutiger Sicht. Die Vertraulichkeit stellt dafür einen Schutzraum dar.
Gabriele Müller: Ganz wichtig: Es geht nicht um Therapie! Die Kontaktpersonen gehen nicht in eine therapeutische oder geistliche Begleitung. Natürlich kann das Ergebnis der Gespräche sein, dass jemand sich eine geistliche Begleitung sucht oder auch therapeutische Hilfe. Aber das ist nicht Aufgabe der Kontaktstelle.
Bedeutet Vertraulichkeit auch Anonymität?
Ursula Gehri: Die Gespräche finden manchmal am Telefon, aber häufig auch über Zoom statt. Manchmal macht sich auch jemand auf die Reise, damit man sich auch physisch begegnet. Aber außer den beiden Personen weiß niemand, wer das Gespräch suchte.
Und wie gelingt die Rückbindung an die Fokolar-Bewegung?
Ursula Gehri: Die Delegierten der D-A-CH-Zone haben die Kontaktstelle eingerichtet und uns alle für die Arbeit beauftragt. Wir sind Uschi Schmitt und Roberto Rossi sehr dankbar für die Unterstützung, die wir von ihnen bekommen. Sie stehen voll und ganz hinter dieser Kontaktstelle mit dem klaren Ziel: Wir wollen da hinsehen. Wir wollen Misstände nicht unter den Teppich kehren. Ihnen ist auch die Prävention ein großes Anliegen: Wenn alle stärker sensibilisiert sind, können viele Unstimmigkeiten vermieden werden.
Gabriele Müller: Wir in der Kontaktstelle sind von den Delegierten beauftragt, haben aber keine Leitungsaufgaben in der Fokolar-Bewegung. Das ist sehr wichtig. Denn Leitung steht immer in einer Spannung – zwischen dem Verständnis für die betroffene Person und dem für die Verantwortlichen und die Organisation. Wir hingegen haben nichts zu verteidigen, wir müssen auch kein Urteil fällen über Situationen. Wir schaffen den Raum, wo die Person, die etwas sagen möchte, Unterstützung bekommt.

Nun will die Fokolar-Bewegung aus dem, was ankommt, lernen. Wie geschieht das?
Ursula Gehri: Die Delegierten erhalten einmal jährlich eine Zusammenfassung unserer Arbeit; über die Anzahl der Gespräche, auf welche Zeiträume (in Zehnjahresabschnitten) sich die Rückmeldungen beziehen, aus welchen Altersgruppen (ebenfalls in Zehnjahresabschnitten) sie stammen. Es werden keine konkreten Sachverhalte genannt, sondern lediglich Themenbereiche. Nur auf ausdrücklichen Wunsch und mit klarem Auftrag durch die/den Betroffenen sprechen wir über den konkreten Einzelfall und oder vermitteln einen direkten Kontakt.
Gabriele Müller: Einige Themen, die häufig genannt werden: Personen hatten den Eindruck, dass Vertrauen missbraucht, Probleme nicht offen angesprochen oder unter den Tisch gekehrt wurden; dass Gehorsam eingefordert wurde; sie haben Bevormundung und Vorschriften erlebt, fühlten sich überfordert oder hatten den Eindruck, dass Verantwortliche sich selbst überhöht hatten.
Insgesamt geht es ja bei geistlichem Missbrauch immer um ein Beziehungsgeschehen und das Erleben von Macht und Machtlosigkeit. Deshalb sind Sensibilisierung und Schulung enorm wichtig. Bei der letzten Generalversammlung haben wir da einen wichtigen Schritt gemacht und uns das Vorgehen gegen geistlichen und sexualisierten Missbrauch vorgenommen. Ich wünsche mir, dass sich daraus nun eine Selbstverpflichtung ableitet, dass jedes Mitglied geschult wird: Was ist Missbrauch? Was ist geistlicher Missbrauch? Und wo kann ich mich hinwenden? Darin liegt die größte Prävention, dass man weiß, was es ist und damit rechnet, dass es passieren kann.
Frau Gehri, Sie kommen nicht aus der Fokolar-Bewegung. Was wünschen Sie sich für die Mitglieder?
Ursula Gehri: Mehr Sensibilisierung für das Thema, Mut und Offenheit. Meine Erfahrung ist: Man kann sehr viele Dinge ansprechen in sehr wertschätzender Art und Weise, ohne Menschen zu verletzen, wenn man immer auch die meist positive Absicht hinter dem Handeln sieht und würdigt.
Verantwortliche müssen sich bewusst sein, was sie bei Menschen mitunter durch ihre Aussagen und ihr Verhalten bewirken können. Aber ich wünsche mir auch von allen, die zur Fokolar-Bewegung gehören, dass sie selbst Verantwortung übernehmen und es ansprechen, wenn etwas nicht gut läuft, wenn sie sich nicht gesehen, übergangen oder abgeschnitten fühlen, bis hin im weitesten Sinne zu Mobbing, oder wenn sie schwieriges Machtgefälle wahrnehmen – und das muss kein hierarchisches sein, sondern einfach, dass da jemand irgendwie Einfluss auf einen hat und man damit nicht klarkommt.
Wenn es einem nicht möglich ist, das direkt anzusprechen, kann dies auch über Kolleginnen und Kollegen, andere vertraute Personen oder die Kontaktstelle geschehen. Schade ist es nur, wenn – wie in manchen anderen Organisationen – wichtige Themen lediglich über den „Flurfunk“ weitergetragen werden.
Was hat Sie bewogen, hier mitzuarbeiten?
Ursula Gehri: Einmal, dass es tolle Menschen sind, die engagiert und kreativ arbeiten. Auch dass es um eine völlig andere Organisation geht, als die, die ich kenne. Gleichzeitig ist es spannend, immer wieder zu sehen, wie ähnlich sich Strukturen und Systeme sind, egal in welchem Setting.
Meine Fragen haben manchmal ein wenig Verwirrung gestiftet, eben weil ich aus einem anderen inhaltlichen Kontext komme [der Wirtschaft]. Aber ich merke, dass es auch bereichernd ist für unsere Kontaktstelle, den Blick von außen zu haben und Dinge zu hinterfragen. Solange ich eine Sinnhaftigkeit sehe und bemerke, dass ich etwas beitragen und lernen kann, macht es mir Freude.
Das Gespräch führte Gabi Ballweg für das Mariapoli-Heft 5/2025; Foto: fokolar-bewegung.de / privat
Hier geht es direkt zur Kontaktstelle auf der Homepage der Fokolar-Bewegung