Eine Online-Schulung regte an, über den Zusammenhang von Einheit und Unterscheidung nachzudenken.
Was auf den ersten Blick fremd und sperrig klingt, hat doch viel mit dem Leben zu tun. Das war eine der wichtigsten Erkenntnisse am Ende der Online-Schulung „Spirituelle Autonomie“ am 15. und 16 März 2024. Es ging dabei um das Spannungsverhältnis von Selbstständigkeit und Bindung, um das Gleichgewicht von dem persönlichem Leben mit Gott und dem der Einheit, von Selbstverantwortung und Hingabe in einem gemeinschaftlichen Leben.
Dies alles vor einem ernsten Hintergrund: Geistlicher und Machtmissbrauch bis hin zu sexualisierter Gewalt – das zeigten die letzten Jahre – sind auch in der Fokolar-Bewegung geschehen. Wesentlicher Teil der Prävention, zu der die Bewegung sich nun auf allen Ebenen selbst verpflichtet hat, ist die Schulung aller Angehörigen und die Sensibilisierung für diese wichtigen Themen. Die Online-Schulung war einer von vielen Bausteinen auf diesem Weg (siehe auch den Bericht aus Münster).
In den weiten Kontext der aktuellen Situation der Bewegung stellte Gabriele Müller aus Frankfurt am Freitagabend die Schulung auch mit diesen Worten: „Wir leben in der Phase nach dem Tod von Chiara Lubich, unserer Gründerin. Im Sinne der ‚kreativen Treue’ sind wir zu einem Reifungsprozess in unseren persönlichen und gemeinschaftlichen Handlungsweisen eingeladen.“ Das Vorbereitungsteam, zu dem die Ärztin und Psychologin gehörte, hatte sich hohe Ziele für die eineinhalb Tage gesetzt: „unsere menschliche und spirituelle Kompetenz weiterentwickeln, Autonomie – Selbstsein – als Frucht gelebter Spiritualität neu entdecken“.
Zunächst lenkte Elisabeth Reichel aus Wien den Blick auf psychologisch-menschliche Zusammenhänge. Die Ärztin für Psychatrie und Psychotherapeutin machte deutlich, dass es beim Thema „Autonomie“ immer um zwei Grundbedürfnisse des Menschen gehe: „Das eine kann man als Verlangen nach Zugehörigkeit bezeichnen; es ist das Verlangen nach Nähe, Bindung, Geborgenheit, der Wunsch von anderen begleitet, aufgenommen, gehalten zu werden. Das andere Bedürfnis kann man als Verlangen nach Selbstständigkeit und Autonomie bezeichnen; es ist das Verlangen verschieden zu sein, unsere eigene Richtung zu bestimmen, die eigene Integrität zu wahren.“ In allen Phasen der menschlichen Entwicklung stehen diese beiden Bedürfnisse in einer Spannung zueinander. „Eine Spannung, die zum schöpferischen Lebensprozess dazugehört und nötig ist.“
Gabriele Müller gab dann Anteil an eigenen Erfahrungen auf ihrem Weg im Leben der gemeinschaftlichen Spiritualität: „Ein Leben der Einheit braucht eine dynamische Balance zwischen Selbst-Sein und Mit-Sein, zwischen Selbst-Liebe und Nächstenliebe. In meiner Biografie in der Fokolar-Bewegung hatte ich um der Nächstenliebe und der Einheit mit meiner Gemeinschaft willen eine Phase, in der ich mein Person-Sein hintangesetzt hatte. Nach und nach hatte ich das Mit-Sein mit anderen, das Beziehung leben, überbetont und über das eigene Selbst-Sein hinweggesehen.“ Heute weiß sie, „dass es die Gegenseitigkeit im Miteinander und die Unterscheidung der Geister braucht. Das Wir, die Gruppe, wird stärker nicht durch Mitglieder, die sich selbst aufgeben, sondern durch die, die sich hineingeben. ‚Das WIR ist kein WIR ohne MICH, und das ICH ist kein ICH ohne WIR!’“
Die beiden Referate hatten reichlich Stoff zum Nachdenken geboten und so kam es zu einem regen Austausch in Kleingruppen.
Der nächste Tag begann mit einem Grußwort von Kopräsident Jesús Morán. Ursprünglich hatte er vorgehabt, selbst einen längeren Beitrag zu geben. Andere Termine hatten das verhindert. Trotzdem war es ihm ein Anliegen, wenigstens kurz die über 500 Teilnehmenden zu grüßen. Er unterstrich dabei die Bedeutung des Themas – nicht nur für die ganze Bewegung, sondern auch für die Kirche.
Francisco Canzani, Berater für den Aspekt „Weisheit und Studium“, hatte es übernommen, Überlegungen zur Spirituellen Autonomie aus dem Blickwinkel der Spiritualität der Einheit zu teilen: „Einheit und Unterscheidung: Auf dem Weg zur Fülle des Einzelnen und der Gemeinschaft“.
Dabei machte er im ersten Teil deutlich, dass die Spiritualität der Einheit eine „kirchliche Spiritualität“ ist: Es gehe dabei um das Leben von Jesus in jedem und jeder persönlich und um das Leben mit Jesus in der Gemeinschaft. Beides ist „kirchlich“, „eine Form des christlichen Lebens, die darauf abzielt, dass die Liebe in Christus wachsen kann, sowohl die des einzelnen Christen als auch die der Gemeinschaft.“
Im zweiten Teil kommentierte er Passagen aus den Texten vom „Paradies ‘49“1), die sich mit der Frage nach Einheit und Unterscheidung beschäftigen. Denn es geht „um den einen und dreifaltigen Gott und um die Auswirkungen auf das Leben der Einzelnen und der Gemeinschaften.“ Er führte unter anderem aus: „Chiara macht die Erfahrung, dass je mehr Einheit es gibt, desto mehr Unterscheidung gibt es auch zwischen den Menschen. … Es klingt paradox und ist vielleicht schwer zu verstehen, aber sehr wahr. Manchmal mögen wir den Eindruck haben, dass, wenn wir eins sind, die Unterschiede zwischen uns, die Differenzen, aufgehoben sind. Stattdessen: wenn Jesus unter uns ist und wir eins sind, fühlen wir uns wirklich wir selbst und frei, mit all unseren intellektuellen und emotionalen Möglichkeiten, die wir geben können. Gleichzeitig fühlen wir uns in wahrer Einheit solidarischer mit allen, besonders mit denen, die leiden, aber doch mit allen.“
Am Ende gab Francisco Canzani Hinweise, was aus der Sicht der christlichen Spiritualität mit spiritueller Autonomie gemeint sein könnte: „Es ist notwendig, dass der Mensch ein gebildetes Gewissen hat und aufmerksam auf die Stimme Gottes hört, die in der Tiefe des Gewissens spricht; und dass sein inneres Leben durch das Gebet und die Sakramente genährt wird. Dies versetzt den Menschen in die Lage, in jedem Menschen einen Nächsten zu erkennen, der ihm gleich ist und sich von ihm unterscheidet.“
Im anschließenden Gespräch wie auch in Gruppen wurde deutlich, wie anrührend die Impulse der verschiedenen Beiträge waren. Einige der Teilnehmenden haben dabei auch eigene, zum Teil schmerzliche Erfahrungen eingebracht.
„Der heutige Tag hat mich berührt, bewegt, erstaunt, auch getriggert, befreit, ermutigt und glücklich gemacht. Es wird noch lange nacharbeiten und -wirken.“ Und auch wenn vieles unter die Haut ging, war doch auch spürbar: „Die Spannung: Autonomie – Leben der Einheit macht uns lebendig. Anziehend für andere.“
Dankbar haben viele aufgenommen, dass die Schulung im nächsten Jahr fortgeführt wird.
Ein Beitrag von Gabi Ballweg; Fotos: privat und © Christophe Hautier / Unsplash.com
1) Zusammenstellung von Texten, in denen sich eine sehr dichte geistliche Erfahrung Chiara Lubichs und der ersten Fokolarinnen und Fokolare im Sommer 1949 in den Trienter Dolomiten widerspiegelt.