Heute lenkt Chiara unseren Blick, unser Herz auf Maria Desolata – die schmerzhafte Maria.
Maria harrt aus
„Dann kommt Karsamstag. Maria ist allein, allein mit ihrem toten göttlichen Sohn. Abgrundtiefer Schmerz, unermessliche Qual? Gewiss, doch Maria steht aufrecht; beispielhaft lebt sie alle Tugenden. Sie hofft und glaubt. Was Jesus im Lauf seines Lebens über seinen Tod, aber auch über seine Auferstehung gesagt hatte, hat sie im Unterschied zu anderen nie vergessen. Wie alle seine Worte hat sie auch diese in ihrem Herzen bewahrt und darüber nachgedacht (vgl. Lukas 2,51).
Deshalb lässt sie sich vom Schmerz nicht überwältigen; sie harrt aus.“
(Konferenzschaltung vom 20. April 2000: Die vier Worte)

Maria mit nach Hause nehmen
„Werfen wir nun einen Blick auf den einfachen Bericht über Maria unter dem Kreuz, den das Evangelium uns bringt.
Als Jesus auf Johannes weisend sagt: „Frau, siehe, dein Sohn!“ (Joh 19,26), klingt das für Maria so, als träte ein anderer an die Stelle ihres Sohnes. Maria erleidet die Prüfung, nicht mehr Mutter Jesu zu sein. Es ist der Augenblick, in dem sie die ihr von Gott gegebene göttliche Mutterschaft an ihn zurückgibt.
Dieses Ja ist anders als ihr erstes. Das erste Ja bei der Verkündigung scheint eine Änderung ihres Lebensprogramms von ihr zu verlangen: sie hat sich doch ganz Gott geweiht in der Jungfräulichkeit. Doch sie wird Mutter und bleibt Jungfrau. Mit dem zweiten Ja auf Golgatha verzichtet Maria darauf, Mutter Jesu zu sein; und nur so wird sie zur Mutter aller. Sie wird im göttlichen Sinn Mutter für unzählige Menschen, weil sie auf die göttliche Mutterschaft gegenüber ihrem ersten Sohn verzichtet. (…)
Welchen Schmerz Maria empfunden haben mag, als Jesus aufschrie: „Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?“, ist unvorstellbar. Es war die Stunde, in der sie ihm ganz nah hätte sein wollen. Doch nun hatte sie auf alle mütterlichen Rechte verzichtet. Sie hatte keinerlei Anrecht darauf gehabt, ihm Mutter zu sein; deshalb konnte sie – als Jesus ihr eine andere Mutterschaft zuwies – weder klagen noch die Fassung verlieren. Jesus hatte also in dem Augenblick weder Mutter noch Vater. Er war das Nichts, geboren aus dem Nichts.
Auch Maria erlebte dieses Nichts: ihre Größe hatte in ihrer Gottesmutterschaft bestanden. Jetzt wurde sie ihr gleichsam genommen. Deshalb scheint Maria in jenem Augenblick – weil Gott es so will – am Leiden des Sohnes, am Werk der Erlösung nicht teilzunehmen. Sie scheint getrennt zu sein von ihrem Sohn, der sich allein für alle – sie eingeschlossen – hingibt. Zugleich aber nimmt sie in einer unvorstellbaren, nicht auszulotenden Intensität daran teil und wird gerade da unsere Mutter. (…)
Unter dem Kreuz verzichtet Maria geistigerweise auf die Gottesmutterschaft – oder besser, sie steht die Prüfung durch, eine Frau wie alle anderen zu sein, – und wird gewissermaßen nicht mehr das mit der Würde der Gottesmutterschaft ausgezeichnete Geschöpf. Sie ist sozusagen nur mehr eine gewöhnliche Frau, so wie Jesus in der Verlassenheit nur noch als Mensch und nicht mehr als Gott erscheint.
Es besteht jedoch ein Unterschied zwischen dieser gleichzeitig gelebten Verlassenheit Jesu und Marias: Jesus ist in der Verlassenheit allein. Maria hat einen Sohn bei sich. Nicht nur. An der Art, wie Jesus zu ihr sagt: „Frau, siehe, dein Sohn“ (Joh 19,26) und zum Jünger: „Sieh, deine Mutter“, begreift man sofort, dass es sich hier nicht nur um die Kindesliebe Jesu zur Mutter handelt oder um eine fürsorgende Liebe Johannes gegenüber. Nein. Diese Worte haben einen besonderen Klang wie z. B. jene Worte, mit denen Christus seine Kirche gründet: Sie schaffen eine Wirklichkeit. In diesem Augenblick bekommt Maria in Johannes die Kirche als ihr Kind anvertraut; und die Kirche erhält in Johannes Maria zur Mutter. (…)
Wenn wir dann im Evangelium weiterlesen: „Und von jener Stunde an nahm sie der Jünger zu sich“ (Joh 19,27), wird uns die Aufgabe der Kirche und jedes Christen klar: Maria zu sich nehmen, mit Maria leben, zu Christus gehen mit Maria, durch Maria, insofern Maria geistig unsere Mutter ist, d. h. für das Wachstum der Gotteskindschaft in den Christen Sorge trägt.
Jesus hätte am Kreuz gut zu Johannes sagen können: Johannes, durch diese meine Passion kaufe ich dich los, erlöse ich dich. Doch Jesus hat uns im Augenblick der Erlösung seiner Mutter Maria anvertraut. Und da er uns Maria anvertraut hat, gibt es, damit die Erlösung an uns fruchtbar wird, keinen anderen Weg, als zu tun, was Jesus will: Maria zu uns zu nehmen und durch Maria zu Jesus zu kommen: „Und Johannes nahm sie zu sich.“
Dieser Gedanke – so meine ich – revolutioniert unser Leben als Christen. Wohl wird Maria geliebt, man betet zu ihr, ihre Statuen und Bilder schmücken unsere Wohnungen. Ihr zu Ehren werden Kirchen und Denkmäler errichtet; sie hat ihren Platz in der katholischen Kirche wie in anderen Kirchen und in den Herzen der Gläubigen. Doch wer denkt schon an die Verpflichtung, „sie zu sich zu nehmen“ wie Johannes und mit ihr zu leben, damit sie als Mutter für das Wachstum unseres unterernährten Christentums Sorge trägt und es durch ihre Ratschläge erleuchtet; dass es begleitet wird von derjenigen, die in vollendeter Weise die Mutter verkörpert, nach der viele, selbst alte Menschen auf dem Sterbebett verlangen.
Hier ist eine tiefgreifende Änderung notwendig: Unser Zuhause darf nicht mehr nur unser Zuhause, es muss das Zuhause von Maria sein. Mit ihr müssen wir leben, um zu verstehen, wie Jesus uns haben will.“
(Chiara bei den Fokolarinnen und Fokolaren, Rocca di Papa, 23. November 1973:
Die Mutter: Maria, die Desolata)
Der obige Text ist gekürzt. Hier kann man sich den
gesamten Vortrag auf Italienisch anhören:
Desolata (Gen Rosso)
Die Brise streift sanft dein Gewand, deine Wangen. Du schwankst zwischen den Figuren, die wie Statuen stehen. Nach dem göttlichen Schrei des Todes, der die ganze Welt entblößte, ist Stille eingekehrt.
Es liegt keine Stimme mehr in der Luft. Alles ist vollbracht. In der Luft liegt kein Klagelied mehr. Der Tod hat gesiegt.
Dein Blick ist auf diesen Körper gerichtet, versteift und allein. Die Welt ist stehen geblieben.
Verlassen, Maria. Komm zu mir nach Hause.
Mutter, ich werde dich bei mir zu Hause behalten.
Mutter, dein Schmerz wird mein Haus betreten.
Mutter, ich werde dich mit meinem ganzen Leben ehren.
Mutter, du bist das größte Geschenk meines Herrn.
Und die Erde erbebt.
Maria, ich bin dir nahe. Die Wächter haben Angst.
Ich bin an deiner Seite. Dieser Mensch war wirklich Gott.
Die Felsen spalten sich, das Heiligtum zittert.
Mutter, ich stehe an deiner Seite.
Verlassen, Maria. Komm zu mir nach Hause.
Ave Maria (Caccini)
Es singt Giorgia Fumanti.
Eine Zusammenstellung von Ulrike Comes. Fotos: AdobeStock_74652620 (Pietà); AdobeStock_1185919722 (Zeichnung)