Manchmal fällt es schwer, sich nach einer besonderen Gotteserfahrung – allein oder auch gemeinsam mit anderen – wieder dem Alltag zuzuwenden. Das erlebte auch Chiara Lubich am Ende des Sommers 1949. Ihr Ringen spiegelt sich in einem bekannten Text vom 20. September 1949.
Die Ferien, die Chiara Lubich zusammen mit einigen der ersten Fokolarinnen und Fokolare im Sommer 1949 in den Dolomiten verbrachte, wurden für sie nach dem Pakt, den sie mit Foco (Igino Giordani) geschlossen hatten und täglich erneuerten, zu einer tiefen mystischen Erfahrung. Eine Zeit, die sie als „Paradies ’49“ bezeichneten.
Sie machten eine starke Gotteserfahrung, die sie miteinander teilten. Chiara selbst schreibt darüber Jahre später im Buch „Der Schrei der Gottverlassenheit“, das sie als einen „Liebesbrief an den verlassenen Jesus“ bezeichnete:
„Aufgrund einer besonderen Gnade erlebten wir [im Sommer 1949], was es bedeutet, eine lebendige Zelle des mystischen Leibes Christi zu sein: Es bedeutet, Jesus zu sein, und als solche im Schoß des Vaters. Und ‚Abba, Vater!’ (Römer 8,15; Galater 4,6) kam über unsere Lippen.
In diesem Augenblick tat sich uns ein neues Verständnis unseres Glaubens auf: Uns schien, dass er darin besteht, an der Seite Jesu, unseres Bruders, zu sein und mit ihm den Vater zu lieben.
So nahm eine lichtvolle, einzigartige Zeit ihren Anfang, in der wir unter anderem den Eindruck hatten, dass Gott uns etwas von seinen Plänen mit unserer Bewegung verstehen lassen wollte. Wir verstanden auch viele Glaubenswahrheiten tiefer, besonders, was der verlassene Jesus, der alles in sich vereint hat, für die Menschen und für die Schöpfung bedeutete. Diese Erfahrung war so stark, dass wir meinten, das Leben würde immer so bleiben: Licht, Himmel.“
Trotzdem: Es kam der Moment, in dem Chiara wieder zurück musste in die Stadt – hinabsteigen vom Berg, hinein in den Alltag. Davon erzählte sie bei anderer Gelegenheit folgendermaßen:
„Ich wollte das Paradies nicht verlassen. Ich fühlte mich nicht in der Lage, mich von jenem Himmel zu entfernen, in dem wir etwa zwei Monate lang gelebt hatten. Ich sah keinen Grund dafür und verstand ihn nicht: nicht aus Anhänglichkeit oder aus einer Laune heraus, sondern weil ich unfähig war, mich wieder der Erde anzupassen, nachdem ich mich an den Himmel gewöhnt hatte. Ich glaubte, dass Gott das nicht wollen konnte.
Foco war es, der mir Mut machte. Er öffnete mir die Augen, indem er mich daran erinnerte, dass der verlassene Jesus mein Ideal war und dass ich ihn lieben konnte in der Menschheit, die mich erwartete.“
Dieses innere Ringen beschreibt sie (wieder im Buch „Der Schrei der Gottverlassenheit“) so:
„Es war ein jähes Erwachen, uns sozusagen auf der Erde wiederzufinden. Nur einer gab uns die Kraft weiterzuleben: der verlassene Jesus, zugegen in der Welt, die es nun zu lieben galt, jene Welt, die er ist, weil sie nicht Himmel ist. Ich traf damals eine neue, bewusstere Entscheidung für den, der uns in seine Nachfolge gerufen hatte. Es war ein Entschluss, der aus dem Herzen kam und der in folgendem bekannten Text Ausdruck fand:
„Ich habe nur einen Bräutigam auf Erden: den verlassenen Jesus. Ich habe keinen Gott außer ihm. In ihm ist der ganze Himmel mit der Dreifaltigkeit und die ganze Erde mit der Menschheit.
Was sein ist, ist darum mein, sonst nichts. Und sein ist der Schmerz der ganzen Welt – und deshalb auch mein.
Ich werde durch die Welt gehen und ihn suchen in jedem Augenblick meines Lebens.
Was mir weh tut, ist mein. Mein ist der Schmerz, der mich im Augenblick trifft. Mein ist der Schmerz der Menschen neben mir (das ist mein Jesus). Mein ist alles, was nicht Friede, Freude, was nicht schön, liebenswürdig, heiter ist … – kurz: all das, was nicht Paradies ist. Denn auch ich habe mein Paradies, doch es ist das Paradies im Herzen meines Bräutigams. Ein anderes kenne ich nicht.
So werde ich durch die Jahre gehen, die mir bleiben: dürstend nach Schmerz, Angst, Verzweiflung, Schwermut, Trennung, Verbannung, Verlassenheit und innerer Qual, nach … allem, was er ist, und er ist die Sünde, die Hölle.
So werde ich das Wasser der Trübsal in den Herzen vieler trocknen, die mir nahe sind, und durch die Gemeinschaft mit meinem allmächtigen Bräutigam auch in denen, die fern von mir sind. Ich werde vorübergehen wie Feuer, das verzehrt, was vergehen muss, und nur die Wahrheit bestehen lässt.
Doch man muss sein wie Jesus in seiner Verlassenheit: er sein im gegenwärtigen Augenblick des Lebens.“
Ein Beitrag von Gabi Ballweg, Fotos: Archiv NST/CSC und Archiv NST/CN