Heute ist unser großes Fest, ein Fest des Schmerzes und der Liebe.

„Bei meiner ersten Begegnung mit der Bewegung hat jemand über Jesus den Verlassenen gesprochen – und ich war sofort gepackt. Die anderen Punkte der Spiritualität finde ich in ähnlicher Form auch woanders, aber diese Liebe von IHM und für IHN, davon hatte mir vorher niemand etwas gesagt.“
So hat mir eine indische Freundin ihren ersten Kontakt mit den Fokolaren in Mumbai geschildert.
Auch Chiara spricht im ersten Text von diesem einen Tag, an dem ER uns gerufen hat und wir uns für IHN entschieden haben. Ganz ehrlich? An diesen Moment kann ich mich nicht erinnern, es war und ist wohl mehr eine Entscheidung in kleinen Raten. Jeder Karfreitag fordert mich allerdings heraus, diese Entscheidung zu überdenken und zu erneuern.


Ein Loblied der Dankbarkeit

„Heute ist Karfreitag. Dieser Tag hat nur einen Namen: Jesus der Verlassene.
In diesen Tagen habe ich ein Buch über Jesus den Verlassenen mit dem Titel ‚Il Grido‘ (Der Schrei der Gottverlassenheit) zum Abschluss gebracht. Ich habe es ihm gewidmet – auch im Namen von euch allen, im Namen der ganzen Fokolar-Bewegung – als einen „Liebesbrief an Jesus den Verlassenen“. Dieses Buch spricht von ihm, der uns gerufen hat – jede und jeden an einem ganz bestimmten Tag unseres Lebens, des einzigen Lebens, das Gott uns gegeben hat. Er hat uns gerufen, ihm zu folgen, uns ihm zu schenken.
Deshalb kann in diesem Buch nicht nur ein Thema behandelt werden, das uns vertraut ist, das uns nahe geht. Es sollte vielmehr ein Lied werden, ein Loblied der Freude und vor allem der Dankbarkeit Jesus gegenüber. 
Er hatte alles gegeben: ein einfaches Leben im Verborgenen und im Gehorsam an der Seite Marias; drei Jahre der Verkündigung; drei Stunden am Kreuz, in denen er den Henkern verzieh, dem Schächer das Paradies öffnete und uns die Mutter schenkte. Es blieb ihm seine Gottheit.
Doch seine innige, unvergleichliche Einheit mit dem Vater, mit dessen Vollmacht er, der Sohn Gottes, auf Erden gewirkt hatte, und die ihm am Kreuz königliche Würde verlieh, diese Gewissheit der Gegenwart Gottes musste gleichsam in den tiefsten Grund seiner Seele versinken, sollte nicht mehr erfahrbar sein. So fühlte sich Jesus vom Vater gewissermaßen getrennt, von dem er doch gesagt hatte: „Ich und der Vater sind eins“ (Johannes 10,30). Und er schreit: „Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?“ (Matthäus 27,46).“

(Konferenzschaltung 20. April 2000: Die vier Worte)



Die Begegnung mit der LIEBE

Rocca di Papa, Karfreitag 2001

Meine Lieben in der gesamten „fokolarinischen Welt“,
eben habe ich – mit Euch – das Kreuz verehrt, mehr noch: die Wunde des verlassenen Jesus. Und auch heute drängt es mich Euch ein Wort zu sagen.
Habt nicht auch Ihr den Eindruck, dass uns der Heilige Geist durch das Charisma der Einheit auch eine tiefere Erkenntnis des Todes Jesu am Kreuz geschenkt hat? Ist der verlassene Jesus etwa nicht eine große Neuheit, dieses „Geheimnis im Geheimnis“, das der Papst in unseren Tagen im Apostolischen Schreiben „Novo millennio ineunte – Zu Beginn des neuen Jahrtausends“ der ganzen Kirche nahe gebracht hat?
Wie sollten wir daher Gott, dem Heiligen Geist, nicht dafür dankbar sein?
Doch der verlassene Jesus bedeutet nicht nur neues Licht im Blick auf die Passion Jesu.
Er ist auch unser Bräutigam.
Und seid euch bewusst, wir können ihm einzig und allein im Schmerz begegnen, in mannigfaltigem Leid, in der Zerrissenheit in unserem Innern, in der Uneinheit, im Leid der Brüder und Schwestern, in Kirche und Gesellschaft.
Fassen wir also Mut! Unser Leben ist kein Spiel: wir sind gerufen dem Schmerz zu begegnen! Jedoch… wir werden es in den Ostertagen hören: wir können den echten, mit Liebe angenommenen Schmerz nicht von der Liebe trennen. Wirkliches „Sterben“ führt zur Auferstehung!
Das geschieht jedes Mal, wenn wir den verlassenen Jesus umarmen. Es ist die göttliche Verwandlungskraft: die Begegnung mit der LIEBE, bei der der Bräutigam sich wirklich als Bräutigam zeigt. Wenn wir ihn heute als den Verlassenen verehren, soll es unser JA für immer sein!
Immer mit Euch,
Chiara


Die sein, die wir sein sollen

„Wenn ihr die seid – so habe ich euch das letzte Mal gesagt – die ihr sein sollt, dann werdet ihr die ganze Welt in Brand stecken.“ Dieses Motto … ist mit Begeisterung aufgenommen worden. Das haben mir eure zahlreichen Telegramme und Botschaften gezeigt. Hier wurde die empfindsame Taste in euren Herzen angerührt und der Kern unserer Berufung angesprochen. Durch sie sind wir – aus Gottes Barmherzigkeit und zu seiner größeren Ehre – berufen zu nicht alltäglichen Dingen: „Begnügt euch nicht mit den kleinen Dingen,“ sagt Katharina, „Gott will große Dinge.“ 
Zusammen mit euch habe auch ich versucht, ihrem Rat zu folgen, ich lebte jenes Wort, das uns anleitet, diejenigen zu sein, die wir sein sollen. An einem der vergangenen Tage sah ich mich unvermittelt vor die Frage gestellt: „Aber wer bist du denn; und ihr: Wer seid ihr denn, damit ihr wirklich die sein könnt, die ihr sein solltet, im wahrsten Sinne des Wortes?“ 
Ich stand in jenem Moment gerade vor einem großen Bild des Verlassenen, und sofort war die Antwort da: „Wir sind diejenigen, die Dich als Ideal ihres Lebens besitzen. ‚Ich habe nur einen Bräutigam auf der Erde. Ich habe keinen Gott außer ihm.’“ 
Und ob alles ganz neue Begriffe wären, habe ich mich erinnert an die Liebe, die Ihn allem vorzieht, an die ausschließliche Entscheidung für ihn, die wir oft getroffen und ihm angeboten haben. Und gleichzeitig entbrannte in meinem Herzen immer mehr der Wunsch, ihn zu lieben wie noch nie zuvor. Aber wo? Und wie? Gewiss: Ihn in allen Menschen lieben! Aber vor allem in denen, die ihm gleichen und die in irgendeiner Weise leiden. …
Wenn wir das tun, bin ich sicher, dass der Rest von selbst geschieht. Wenn wir so leben, sind wir im besten Sinn diejenigen, die wir sein sollen. Unsere Aufgabe ist ja so wie die von Jesus: Er ist für die Kranken gekommen und nicht für die Gesunden, für die Sünder und nicht für die Gerechten. Die Gesunden und Gerechten werden uns dann spontan folgen. Meine Lieben, Karfreitag, unser großes Fest, ein Fest des Schmerzes und der Liebe. Der Kuss des Kreuzes soll in diesem Jahr die Bedeutung eines Versprechens haben: Ihn das ganze Jahr über in den Menschen zu sehen, die am meisten an ihn erinnern und die ihm am ähnlichsten sind.

(Konferenzgespräch vom 19. April 1984: Keinen Gott außer ihm)


Die Matthäus-Passion

Hier findet ihr einen kleinen Ausschnitt aus der Matthäus-Passion von Johann Sebastian Bach, die oft in evangelischen Kirchen am Karfreitag aufgeführt wird:

  • Und von der sechsten Stunde an (Rezitative und Chöre)
  • Wenn ich einmal soll scheiden (Choral)
  • Und siehe da, der Vorhang im Tempel zerriss (Rezitativ)
  • Am Abend, da es kühle war (Rezitativ)

Eine Aufnahme mit Matthias Goerne, Nikolaus Harnoncourt, Concentur Musicus Wien, Arnold Schoenberg Chor, den Wiener Sängerknaben und Christoph Prégardien.

Dies ist der Text der obigen Musikstücke zum Herunterladen.


Auf YouTube gibt es eine wundervolle Aufnahme aus der Thomaskirche in Leipzig, in der Bach seine Matthäus-Passion an Karfreitag 1727 zum ersten Mal zur Aufführung brachte. Es wird mit alten Instrumenten gespielt, die Aufführungsdauer beträgt knapp 2,5 Stunden. Hört mal rein…


Eine Zusammenstellung von Ulrike Comes. Foto: AdobeStock_1139225544